27.09.2012

Gründe für eine Naherwartung

Es gibt mehrere Gründe für eine Naherwartung:

1) Wir erkennen, dass die Entrückung nicht identisch ist mit dem Erscheinen bzw. der Wiederkunft Christi. Es handelt sich hier um zwei unterschiedliche Ereignisse, und es gibt eine ganze Reihe von Unterscheidungsmerkmalen. Die Entrückung bezieht sich auf die Gemeinde, wenn die Toten in Christus auferstehen und die Lebenden weggenommen werden, um dem Herrn in der Luft zu begegnen (1.Kor 15,52; 1.Thess 4,16-17). Dieses Ereignis weckt Hoffnung und eine freudige Erwartungshaltung (1.Thess 1,10), und diese wirken sich aus in einem siegreichen und geläuterten Lebenswandel (1.Joh 3,2-3).

Andererseits geht es bei der Wiederkunft Christi nicht in erster Linie um den Heiligen, sondern um den Sünder. Wenn Christus zur Erde zurückkehrt, muss die Schlacht von Harmagedon beendet sein (Offb 19,17-18), das Tier und der falsche Prophet werden in den Feuersee geworfen (Offb 19,19-20), Satan wird im Abgrund gebunden werden (Offb 20,1-3), die Nationen der Erde werden zum Gericht versammelt (Mt 25,31-46) und Israel, das eine schlimme Prüfung durchstehen musste, wird nun Christus, seinen wahren Messias sehen und sein Vertrauen auf Ihn setzen (Sach 12,10; Röm 11,26-27).

2) Es gibt grosse sprachliche Unterschiede bei der Beschreibung der beiden Ereignisse. Während beide sich auf die Endzeit beziehen und beide das Wirken Christi beschreiben, wurden die Gläubigen der Urgemeinde angewiesen, den Erlöser zu erwarten (Phil 3,20; Tit 2,13): «… zum zweiten Mal wird er nicht der Sünde wegen erscheinen, sondern denen, die auf ihn warten, zum Heil» (Hebr 9,28). In gleicher Weise sollten sie den Sohn Gottes vom Himmel erwarten (1.Thess 1,10). Sie sollten wachsam und nüchtern sein (1.Thess 5,6) und einander trösten mit der Hoffnung auf das Kommen Christi (1.Thess 4,18). Diese häufigen Ermahnungen bewirkten eine Naherwartung der Rückkehr Christi.

Paulus zählte sich offenbar zum Kreis derer, die auf die Rückkehr Christi warteten (1.Thess 4,15.17; 2.Thess 2,1). Timotheus wurde ermahnt, «dass du das Gebot unbefleckt, untadelig haltest bis zur Erscheinung unseres Herrn Jesus Christus» (1.Tim 6,14). Jüdische Gläubige wurden an Folgendes erinnert: «Denn nur noch eine kleine Weile, so wird kommen, der da kommen soll, und wird nicht lange ausbleiben» (Hebr 10,37). Bei einigen Christen war die Erwartungshaltung derart stark ausgeprägt, dass sie ihre Arbeit niedergelegt hatten und ermahnt werden mussten, wieder in ihre Berufe zurückzukehren (2.Thess 3,10-12). Alle wurden zur Geduld ermahnt (Jak 5,8). Schliesslich beendete Johannes das Buch der Offenbarung, mit dem der Kanon der Bibel seinen Abschluss fand, mit dem freudigen Ausruf: «Es spricht, der dies bezeugt: Ja, ich komme bald. – Amen, ja, komm, Herr Jesus» (Offb 22,20). Solche Bibeltexte bilden die Grundlage für die unter den ersten Christen weitverbreitete Hoffnung auf die unmittelbar bevorstehende Rückkehr Christi.

Völlig anders ist der Sprachgebrauch in Texten über die Wiederkunft, bei der Christus zurückkehrt, um dem Unglauben und der Rebellion der Gottlosen ein Ende zu setzen. An diesem Tag wird Er kommen «in Feuerflammen, Vergeltung zu üben an denen, die Gott nicht kennen und die nicht gehorsam sind dem Evangelium unseres Herrn Jesus» (2.Thess 1,8). Das fehlende Verständnis über die Unterschiede zwischen Entrückung und Wiederkunft ist heute eine der Hauptursachen für die in den verschiedenen Lagern der Eschatologie herrschende Verwirrung.

3) Die Naherwartung ist seit Jahrhunderten stets ein Glaubensgrundsatz evangeliumstreuer Christen gewesen. Während theologische Begriffe wie «Trinität», «Theophanie (Gotteserscheinung) », «Naherwartung», «Unfehlbarkeit (der Bibel)» und «vor dem Millennium» sich im Laufe der Jahrhunderte allmählich entwickelten, war die Naherwartung, obwohl dieser Begriff damals nicht verwendet wurde, die Erwartung der Gemeinde zur Zeit der Apostel.

John F. Walvoord, eine Autorität im Bereich der Eschatologie, veranschaulicht diesen Sachverhalt: «Die zentrale Aussage der Lehre von der Entrückung vor der Trübsal, nämlich die Lehre von der baldigen Rückkehr des Herrn, ist ein zentrales Anliegen in der Lehre der Urgemeinde … (die) in ständiger Erwartung auf das Kommen des Herrn zu Seiner Gemeinde lebte.»

Er zitiert aus der Didache, die etwa 100 bis 120 n.Chr. geschrieben wurde. Dort ist folgende Ermahnung zu lesen: «Seid wachsam um eures Lebens willen. Lasst eure Lampen nicht erlöschen und lasst eure Lenden immer gegürtet sein; seid bereit, denn ihr wisst nicht die Stunde, in der unser Herr kommt.»

Sogar Adolph Harnack, einer der ersten liberalen Theologen, schrieb mit der Genauigkeit eines Historikers Folgendes: «In der Geschichte der Christenheit gab es drei Kräfte, die bei der Verkündigung des Evangeliums als Hilfsmittel dienten. Diese haben die glühende Begeisterung von Menschen geweckt, die durch das blosse Predigen des Evangeliums nicht zu entschiedenen Anhängern geworden wären. Dazu (gehört) unter anderem ein Glaube an die schnelle Rückkehr Christi und Seine herrliche Herrschaft auf Erden. Zuerst kam der Glaube an die Nähe der Wiederkunft Christi und die Errichtung Seiner Herrschaft der Herrlichkeit auf Erden, ja, er erscheint so früh, dass sich hier die Frage stellt, ob er nicht als wesentlicher Bestandteil der christlichen Religion angesehen werden sollte.»

Jesse Forest Silver machte in seinem hervorragenden Buch The Lord’s Return (Die Rückkehr des Herrn) folgende Anmerkung über die apostolischen Väter: «Sie erwarteten die Rückkehr des Herrn in ihrer Zeit. … Sie glaubten, dass dieser Zeitpunkt unmittelbar bevorstand, weil ihr Herr sie gelehrt hatte, in einer Haltung der Wachsamkeit zu leben. (Über die Kirchenväter vor dem Konzil zu Nicäa erwähnt er Folgendes:) Aus der Überlieferung kannten sie den Glauben der Apostel. Sie verkündigten die Lehre von der Nähe der vor dem Millennium stattfindenden Rückkehr des Herrn.»

Von Gerald B. Stanton