17.08.2012

Das Verhältnis des Christen zu Gesetz und Gnade

Das Verhältnis des Christen zum mosaischen Gesetz wird in der Bundestheologie ganz anders gesehen als im Dispensationalismus. In der Bundestheologie wird die Meinung vertreten, dass Christen heute zwar nicht mehr den rechtlichen und kultischen Verordnungen des mosaischen Gesetzes unterworfen sind, wohl aber dem Sittengesetz (den Zehn Geboten). Sich dem Sittengesetz nicht zu unterstellen, ist gleichbedeutend mit Gesetzlosigkeit. Das Sittengesetz spiegelt Gottes absolute moralische Massstäbe wider, die unveränderlich sind, und derjenige, der ihm nicht untersteht, hat keinerlei Bezug zu diesen Massstäben. Damit stehen Christen nur zwei Möglichkeiten offen – entweder sie sind unter dem Sittengesetz, oder sie sind gesetzlos.
Im Gegensatz dazu wird im Dispensationalismus die Ansicht vertreten, dass Christen heute keinem einzigen Bereich des mosaischen Gesetzes unterstehen, auch nicht dem Sittengesetz. Hier ist die Tatsache wichtig, dass das Gesetz zwar drei Teile umfasste (es regelte die rechtliche, kultische und sittliche Sphäre), dass es aber eine untrennbare Einheit darstellte. Sich unter einen Teilbereich des Gesetzes zu stellen, zieht also die Verpflichtung nach sich, das gesamte Gesetz zu halten. Wenn jemand unter dem Sittengesetz ist, muss er auch die rechtlichen und kultischen Verordnungen befolgen.
Zudem heisst es nicht, dass jemand keinen Bezug zu Gottes ewigen, unveränderlichen moralischen Massstäben hat, nur weil er nicht unter dem Sittengesetz steht. Natürlich vermittelt das Gesetz Gottes Standard, aber es stellt lediglich eine Methode dar, wie Gott dies für eine bestimmte Gruppe Menschen (das Volk Israel) eine Zeit lang tat (von Gottes Erscheinung vor Israel am Sinai bis zum Kreuz Jesu Christi) (5.Mo 4,8-14; 5,1-22; Gal 3,19.23-25).
Da Gottes moralische Massstäbe ewig sind, gelten und galten sie die ganze Geschichte hindurch, auch schon, bevor Gott am Sinai das mosaische Gesetz gab. Das bedeutet, dass er seinen unveränderlichen moralischen Massstäben vor der Gesetzgebung auf andere Art und Weise Geltung verschaffte, und dass sie auch dann wirksam sein können, wenn das mosaische Gesetz nicht in Kraft ist.
Des Weiteren ist die Feststellung wichtig, dass es schon vor der Gesetzgebung Menschen gab, die in Übereinstimmung mit Gottes absoluten moralischen Massstäben ein gerechtes Leben lebten. Abel (Hebr 11,4), Henoch (1.Mo 5,22.24; Hebr 11,5), Noah (1.Mo 6,9; Hes 14,14.20) und Hiob (Hi 1,8; 2,3; Hes 14,14.20) sind hierfür Beispiele. Es ist interessant, dass Gott Noah und Hiob (die ohne das mosaische Gesetz lebten) in dieselbe Kategorie von Gerechtigkeit einordnete wie Daniel (der unter dem mosaischen Gesetz lebte) (Hes 14,14.20). Die Tatsache, dass es Menschen gab, die vor der Einsetzung des mosaischen Gesetzes rechtschaffen und Gottes Richtschnur entsprechend lebten, zeigt zweierlei: Der Mensch kann in Beziehung zu Gottes ewigen, unveränderlichen moralischen Massstäben stehen, ohne unter dem Sittengesetz zu sein; und es ist möglich, vom Sittengesetz frei zu sein, ohne gesetzlos zu werden.
Vor der Gesetzgebung am Sinai verschaffte Gott seinen absoluten moralischen Massstäben über die gesamte Menschheit auf anderem Wege als durch das Gesetz Geltung. Von der Gesetzgebung bis zur Kreuzigung Jesu Christi gebrauchte er für Israel das mosaische Gesetz. Seit Golgatha sorgt er mit einem neuen Mittel für die Einhaltung seiner ewigen Massstäbe, das dem mosaischen Gesetz überlegen ist. Dabei haben sich Gottes absolute Grundsätze kein bisschen verändert, wohl aber der Weg, wie Gott ihnen Geltung verschafft. So sind zum Beispiel Götzendienst und Ehebruch in Gottes Augen nach Golgatha genauso falsch wie zur Zeit des mosaischen Gesetzes, aber seit dem Kreuz fordert Gott nicht mehr die Todesstrafe für diese Sünden (1.Kor 6,9-11), wie es während der Gültigkeitsdauer des mosaischen Gesetzes der Fall war (2.Mo 22,19; 3.Mo 20,10). Das neue, bessere Mittel, mit dem Gott für die Einhaltung seiner absoluten moralischen Massstäbe sorgt, heisst Gnade.
Angesichts des eben Ausgeführten drängen sich zwei bedeutsame Schlussfolgerungen auf: Freiheit vom Sittengesetz schliesst nicht die Freiheit von Gottes absoluten moralischen Massstäben ein, sondern nur die Befreiung von einem Mittel, mit dem Gott seine Massstäbe verordnet hat – dem mosaischen Gesetz. Ausserdem stehen dem Christen mehr als zwei Möglichkeiten offen, es gibt nicht nur die Unterwerfung unter das Sittengesetz und Gesetzlosigkeit. Daneben existiert noch eine dritte Möglichkeit: Wer bei der Durchsetzung von Gottes absoluten moralischen Massstäben unter seiner Gnade steht, ist nicht mehr gesetzlos.
Belege, dass das mosaische Gesetz eine unteilbare Einheit bildete. Der dispensationalistische Glaube an die Unteilbarkeit des mosaischen Gesetzes beruht auf drei Schriftstellen. In Galater 3,10 schreibt Paulus: «Denn alle, die aus Gesetzeswerken sind, die sind unter dem Fluch; denn es steht geschrieben: ‹Verflucht ist jeder, der nicht bleibt in allem, was im Buch des Gesetzes geschrieben ist, um es zu tun!›» Gemäss diesem Vers ist jemand, der versucht, das mosaische Gesetz einzuhalten, verpflichtet, jeden Bereich des Gesetzes vollkommen und dauernd zu befolgen. Mit anderen Worten, das Gesetz war eine unteilbare Einheit. Wer einen Teil davon einhielt, war verpflichtet, das Ganze zu halten.
In Galater 5,3 stellt Paulus fest: «Ich bezeuge aber noch einmal jedem Menschen, der sich beschneiden lässt, dass er das ganze Gesetz zu tun schuldig ist.» Die Beschneidung gehörte der kultischen Sphäre des Gesetzes an, und Paulus bekräftigte, dass der Gehorsam gegen eine einzige Regelung des Zeremonialgesetzes die betreffende Person zum Gehorsam gegen das ganze Gesetz verpflichtete. Erneut hebt er damit die Unteilbarkeit des Gesetzes hervor.
Jakobus erklärte: «Denn wer das ganze Gesetz hält, aber in einem strauchelt, ist aller Gebote schuldig geworden» (Jak 2,10). Das bedeutet, dass jemand durch den Bruch eines einzigen Gebotes des Bruchs des ganzen Gesetzes schuldig wurde, was nur sein kann, wenn das mosaische Gesetz eine unteilbare Einheit bildet.
Die Tatsache, dass das mosaische Gesetz unteilbar war, bedeutet für das Verhältnis des Christen zum Gesetz etwas sehr Wichtiges: Da es unteilbar ist, ist der Christ, der sich unter das Sittengesetz stellt, verpflichtet, alle Gebote aus allen Bereichen einzuhalten (rechtliche, kultische und sittliche Verordnungen).
Belege, dass Christen nicht unter dem mosaischen Gesetz sind. Dass Christen nicht unter dem mosaischen Gesetz sind, wird aus verschiedenen Schriftstellen deutlich. In Römer 6,14-15 stellt Paulus gleich zweimal fest, dass Christen (auch er selbst) nicht mehr unter Gesetz, sondern unter Gnade sind. In Römer 7,4 schreibt er, dass Christen durch Jesu leiblichen Tod dem Gesetz getötet worden sind. Aus dem Kontext sehen wir, dass Paulus zeigen wollte, dass ein Christ, der dem mosaischen Gesetz gegenüber gestorben ist, jeder diesbezüglichen Verpflichtung ledig ist. In Römer 7,6 verweist Paulus erneut darauf, dass der Christ, wenn er dem mosaischen Gesetz gegenüber gestorben ist, von ihm losgemacht ist. Der mit losgemacht übersetzte Begriff bedeutet «aus dem Wirkungsbereich entnehmen »1, das heisst, Christen wurden aus dem Wirkungsbereich des mosaischen Gesetzes entfernt. Weiter lehrt Paulus, dass diese Versetzung dazu führt, dass Christen Gott in der neuen Weise des Geistes dienen und nicht mehr in der alten Weise des mosaischen Gesetzes, sodass ihre Art, Gottes absolute Massstäbe umzusetzen, sich vom mosaischen Gesetz unterscheidet.
In Galater 2,19 erklärt Paulus, dass er dem Gesetz gestorben ist, damit er Gott lebt. Daraus folgt, dass ein Gläubiger von jeder Bindung an das Gesetz los sein muss, damit er wirkliches geistliches Leben haben kann. In Galater 3,19 bezeugt er, dass das Gesetz vorläufig war und nur bis zum ersten Kommen Jesu Christi, Abrahams Nachkommen, in Kraft bleiben sollte. Paulus erweiterte diese Lehre von der Vorläufigkeit des Gesetzes noch, als er schrieb, dass das Gesetz nur solange als Zuchtmeister diente (das heisst Erzieher oder Lehrmeister für moralische Zurückhaltung), bis Christus gekommen war, und wir aus Glauben gerechtfertigt werden (Gal 3,23-25).
In Galater 5,18 schreibt Paulus, dass derjenige, der vom Geist geleitet (gelenkt) wird, nicht unter dem Gesetz ist, und in Römer 8,14 zeigt er, dass es die Christen sind, auf die diese Tatsache zutrifft. Paulus’ Aussage im Galaterbrief bedeutet also, dass Christen nicht unter dem Gesetz sind. Weiter weist er darauf hin, dass kein Gesetz gegen die Frucht des Geistes gerichtet ist (die vom Heiligen Geist im Leben der Gläubigen erzeugt wird) (Gal 5,22-23). Paulus will mit dieser Darlegung Folgendes sagen: Der Heilige Geist bringt gerechte Frucht in einem Christen hervor. Da diese Frucht von Natur aus gerecht ist, und da das mosaische Gesetz gegeben wurde, um die Ungerechtigkeit (Gesetzlosigkeit) einzudämmen (Gal 3,19), wird das mosaische Gesetz als Gegenstück zur Frucht des Geistes nicht benötigt. Damit sind Christen nicht unter dem mosaischen Gesetz.
Paulus erklärt, dass das mosaische Gesetz von Jesus Christus durch seinen körperlichen Tod am Kreuz beseitigt wurde (Eph 2,15-16). Das mit «beseitigt» übersetzte Wort bedeutet «ausser Kraft setzen»2. Hinter dieser Aussage steht der Gedanke, dass Gott in der Zeitspanne zwischen seiner Erscheinung vor Israel am Sinai bis zu Christi Tod am Kreuz das mosaische Gesetz gebrauchte, um seinen absoluten moralischen Massstäben in Israel Geltung zu verschaffen. Aber als Christus starb, hörte er damit auf. Er löste seine Verbindung zum Gesetz und setzte es ausser Kraft. Damit sind die Gläubigen seit Golgatha nicht mehr unter dem mosaischen Gesetz und unterstehen ihm auch nicht als moralische Lebensregel.
Der Hebräerbrief zeigt, dass die alttestamentlichen Schriften lehrten, dass das aaronitische Priestertum schliesslich von einem Priester nach der Ordnung Melchisedeks ersetzt werden würde (Hebr 7). Es findet sich also bereits im Alten Testament das Bewusstsein, dass das aaronitische Priestertum zeitlich befristet war. Auf dieser Grundlage geht der Schreiber des Hebräerbriefes noch einen Schritt weiter und erklärt: «Denn wenn das Priestertum geändert wird, so findet notwendig auch eine Änderung des Gesetzes statt» (Hebr 7,12). F. F. Bruce weist darauf hin, dass das in diesem Vers mit «Änderung» übersetzte Wort «nicht allein auf eine Änderung verweist, sondern auf die Abschaffung.»3 Der Verfasser des Hebräerbriefes zeigt damit auf, dass das mosaische Gesetz, durch das das aaronitische Priestertum eingesetzt worden war, mit diesem zusammen abgeschafft wurde, als Jesus Christus das aaronitische Priestertum durch die Aufrichtung seines priesterlichen Dienstes nach der Ordnung Melchisedeks aufhob.
F. F. Bruce schreibt bezüglich dieser Lehre: «Auch war es nicht alleine das aaronitische Priestertum, das ersetzt werden musste. Dieses Priestertum war unter dem mosaischen Gesetz eingerichtet worden, und war ein so fester Bestandteil desselben, dass eine Änderung im Priestertum unvermeidlich auch zu einer Änderung im Gesetz führt. Wenn das aaronitische Priestertum nur einen zeitlich beschränkten Zweck erfüllte und beendet werden sollte, wenn das Zeitalter der Vollendung anbrach, muss dasselbe auch für das Gesetz gelten, unter dem dieses Priestertum eingesetzt worden war. So kommt unser Autor durch seine eigene Argumentationslinie unabhängig von Paulus zum selben Schluss wie jener4: Das Gesetz war eine zeitlich befristete Einrichtung, «unser Zuchtmeister auf Christus hin (…). Nachdem aber der Glaube gekommen ist, sind wir nicht mehr unter einem Zuchtmeister» (Gal 3,24f ). (…) Wenn wir so wollen, könnten wir sagen, dass Paulus dabei hauptsächlich an das Sittengesetz denkt, während es dem Verfasser des Hebräerbriefes mehr um das Zeremonialgesetz geht. (…) obwohl die Unterscheidung zwischen Sitten- und Zeremonialgesetz auf christliche Theologen zurückgeht und nicht auf die, die das ganze Gesetz als Gottes Willen ansahen und noch weniger auf die Schreiber des Neuen Testaments. Aber prinzipiell stimmen Paulus und unser Autor darin überein, dass das Gesetz eine zeitliche Veranstaltung Gottes war und nur solange galt, bis Christus kam und das Zeitalter der Vollendung einleitete.»
Da Jesus mit der Abschaffung des aaronitischen Priestertums das mosaische Gesetz aufhob, ist der Schluss zulässig, dass Christen heute nicht unter dem Gesetz sind. Die im vorliegenden Artikel dargelegten Beweise untermauern zwei Folgerungen: Erstens handelt es sich beim mosaischen Gesetz um eine unteilbare Einheit. Wenn sich also jemand unter das Sittengesetz stellt, verpflichtet er sich damit, das ganze Gesetz zu halten (einschliesslich der rechtlichen und kultischen Vorschriften). Zweitens sind Christen unter keinem Bereich des mosaischen Gesetzes.
Von Renald E. Showers