20.06.2012

Hat Gott Seine Verheissungen erfüllt? – Teil 1

Zum biblischen Verständnis von Josua 21,43-45. Teil 1.
In einem Artikel über Ersatztheologie fasst Michael J. Vlach ein Problem zusammen, das vielen Bibelkennern bekannt ist: «Nur wenige theologische Probleme werden so heiss diskutiert wie das Verhältnis zwischen Israel und der Gemeinde. Dies ist eine endlose Streitfrage zwischen Bundestheologen und Dispensationalisten … Es ist vor allem umstritten, ob die neutestamentliche Gemeinde das Volk Israel ersetzt hat, ob sie die Verheissungen für Israel erfüllt hat oder ob sie Israel als Gottes Volk verdrängt hat. Wenn das so ist, was bedeutet das für den heutigen Staat Israel?»
Dieser Streitpunkt ist für beide theologischen Lager vorrangig. Bringt man es auf den Punkt, geht es dabei letztendlich um ein einziges Schlüsselproblem: «Dabei ist für beide Seiten der Teil der Verheissungen Gottes an Abraham von zentraler Bedeutung, der sich auf das Land bezieht – eine im AT oft wiederholte Verheissung: Wem gehört das Land Israel? Weil Bundestheologen der Ansicht sind, die Gemeinde sei im Laufe der Heilsgeschichte an die Stelle Israels getreten, bestreiten sie die unabänderliche Gültigkeit dieser Verheissung.»
Diese Land-Debatte muss sorgfältig geführt werden. Jede Auslegung hat bedeutende Konsequenzen – schon deshalb, weil die Heilige Schrift sehr oft von diesem Land spricht.
Walter C. Kaiser beobachtet: «Im Alten Testament gibt es nur wenige Themen, die so bedeutsam sind wie die Landesverheissung an die Patriarchen und das Volk Israel. Tatsächlich ist ‹Land› (erez) das vierthäufigste Hauptwort in der hebräischen Bibel. Gäbe es da nicht das grössere und umfassendere Thema der höchsten Verheissung mit all dem, was damit zusammenhängt, könnte das Thema ‹Israel und sein Land› gut als Überschrift oder Leitmotiv des ganzen Kanons dienen.»
In gewisser Hinsicht ist dieses Thema ein Nebenprodukt. Denn es geht um die Kernfrage, wie die Verheissungen Gottes überhaupt ausgelegt und gedeutet werden sollen. Die Frage, wem das Land gehört und ob dies irgendeine eschatologische Bedeutung hat, ist allerdings viel mehr, als blosse Fachsimpelei unter Theologen. Denn die Antwort darauf hat weitreichende Konsequenzen – sogar für die nationale und weltweite Politik.
Viele Bibelleser, die glauben, dass die Landesverheissungen bereits erfüllt wurden, halten Josua 21,43-45 für den eindeutigen Beweis. Gott habe die Landesverheissungen schon erfüllt, die Er den Juden in Seinem Bund mit Abraham gegeben hatte, folglich könne man keine zukünftige weitere Erfüllung mehr erwarten – weder für das Land noch für das Volk Israel: «So gab der Herr Israel das ganze Land, von dem er geschworen hatte, es ihren Vätern zu geben, und sie nahmen es in Besitz und wohnten darin. Und der Herr verschaffte ihnen Ruhe ringsum, ganz so, wie er ihren Vätern geschworen hatte; und keiner ihrer Feinde konnte vor ihnen bestehen, sondern der Herr gab alle ihre Feinde in ihre Hand. Es fehlte nichts an all dem Guten, das der Herr dem Haus Israel verheissen hatte; alles war eingetroffen» (Jos 21,43-45).
Auf den ersten Blick lassen diese Verse tatsächlich den Schluss zu, Gott habe alle Seine Landesverheissungen an Israel bereits erfüllt. Überraschenderweise scheint diese Auslegung jedoch relativ neu zu sein. Sie wird allerdings in Internet-Chatrooms und -Blogs sowie in manchen erst kürzlich veröffentlichten Büchern häufig vertreten. Offensichtlich erfreut sich diese Auslegung wachsender Beliebtheit.
Die Vertreter der sogenannten Theologie des Neuen Bundes sind eine der grössten Gruppen und lautesten Stimmen, die behaupten, Gott habe die Landesverheissungen des abrahamitischen Bundes bereits erfüllt (sie sind allerdings nicht die einzigen). Ihre Theologie ist «ein relativ neues System, das – obwohl noch nicht klar definiert – versucht, die Stärken des Dispensationalismus und der Bundestheologie zu kombinieren und ihre Schwächen zu eliminieren». Da sie der Meinung sind, die Landesverheissungen seien schon in der Zeit Josuas erfüllt worden, überrascht es nicht, dass Josua 21,43-45 für ihre Position so entscheidend ist. So meinen die Theologen des Neuen Bundes, Josua 21,43-45 sei ihr unwiderlegbarer «Beweis» für die vollständige Erfüllung der Bundesverpflichtungen Gottes im abrahamitischen Bund – zumindest, was das Land betrifft.
Steven Lehrer, ein Vertreter der Theologie des Neuen Bundes, schreibt: «Das Buch Josua sagt uns: Als die Israeliten schliesslich den grössten Teil des Landes eingenommen hatten, waren alle Abraham gegebenen Verheissungen erfüllt (Josua 21,43-45). Nichts Weiteres musste geschehen, um Gottes Wort an Abraham zu erfüllen. Seine Verheissungen der Ruhe im Land und des Landbesitzes waren erfüllt. Das gilt auch für seine Verheissung einer grossen Nachkommenschaft und einer besonderen Beziehung zu Gott. All das war in der Zeit Josuas mit der Eroberung des Landes Kanaan erfüllt worden.»
Genauso argumentiert auch Michael W. Adams: «So gab der Herr Israel das ganze Land, von dem er geschworen hatte, es ihren Vätern zu geben, und sie nahmen es in Besitz und wohnten darin. … Es fehlte nichts an all dem Guten, das der Herr dem Haus Israel verheissen hatte; alles war eingetroffen. Josua 21,43-45, Hervorhebung hinzugefügt.»
Allerdings ist diese Sichtweise von einer Erfüllung der Landesverheissungen nicht nur in der Theologie des Neuen Bundes zu finden. Ein gewisser William Cox gab schon vor Jahrzehnten dieselbe Schlussfolgerung schriftlich: «Hat Gott das Versprechen Josua gegenüber gehalten? … Wir könnten diese Verheissungen, dass Israel das Land Kanaan erben sollte, wie folgt zusammenfassen: Das Land wurde Abraham verheissen; die Verheissung wurde erneuert an Isaak, Jakob und Mose. Sie wurde wörtlich erfüllt durch Josua … Wie traurig, dass einige Theologen immer noch behaupten, dies läge noch in der Zukunft! Der futuristische Glaube beruht grösstenteils auf der Annahme, Gott habe Israel nie das ganze Land gegeben, das Er Abraham verheissen hatte.»
Keith A. Mathison fasst die Erfüllungs-Sicht zusammen; er führt an, welche Bedeutung Josua 21,43-45 als Beweis hat: «Zahlreiche andere Stellen im Alten Testament sagen uns, dass Gott die Landesverheissungen für Israel bereits erfüllt hat (Jos 11,23; 21,21-45; Neh 9,25). Josua 21,43-45 erklärt ausdrücklich, dass Israel das ganze Land gegeben wurde, das ihm verheissen war.»
Gary DeMar legt Josua 21,43-45 auch als bereits erfüllt aus. Seine Auslegung zeigt auf, wie dies die Auslegung anderer wichtiger prophetischer Stellen beeinflusst. DeMar argumentiert, es gebe zwischen der 69. und 70. Jahrwoche Daniels keine Unterbrechung. Den zweiten Punkt seiner Beweisführung stellt er dabei als eine allgemein bekannte und unwiderlegbare Tatsache dar: «Ausserdem sagt der Text (Dan 9,26-27) nichts aus über die Rückführung Israels in sein Land als Erfüllung einer Bundesverpflichtung. Alle Landesverheissungen Gottes an Israel waren erfüllt (Josua 21,43- 45).» Die Bedeutung dieser Aussage ist natürlich bemerkenswert: Wenn Josua 21,43-45 als bereits erfüllt gelten kann, dann kann auch Daniel 9 mit Recht als erfüllt gelten. Dieser zweite Punkt, den er verwendet, um seine Auslegung von Daniel 9,26-27 zu untermauern, hat jedoch keinerlei Grundlage für sämtliche anderen eschatologischen Auslegungen, wenn aufgezeigt werden kann, dass diese Verheissungen noch nicht erfüllt worden sind!
In dieser Serie soll untersucht werden, wie stichhaltig die Behauptungen sind, Josua 21,43-45 beweise unwiderlegbar, dass alle Landesverheissungen Gottes an Israel bereits erfüllt worden seien und folglich keine zukünftige eschatologische Bedeutung hätten. Dies soll folgendermassen geschehen: (1) Durch einen kurzen Überblick über die Bündnisse Gottes vor Josua 21. (2) Durch eine Untersuchung der ursprünglichen geografischen Grenzen des abrahamitischen Bundes, wobei die Bedeutung des Euphrats besonders beachtet werden soll. (3) Durch einen Überblick über die eschatologische Bedeutung von 3. Mose 26,40-45. (4) Durch die Untersuchung wichtiger Stellen im Buch Josua. (5) Durch die kritische Auseinandersetzung mit einem populären Befürworter der vollständigen Erfüllung in Josua 21,43-45. (6) Und schliesslich durch den Vorschlag einer Auslegung.
Von Greg Harris