12.11.2010

Populäre «Dogmen» in der biblischen Prophetie – Teil 1

Warum gibt es manchmal so gravierende Unterschiede in der Bibelauslegung? Wenn zwei Personen beim Bibelstudium den aufrichtigen Wunsch haben, die Wahrheiten des Wortes Gottes zu entdecken, können sie trotzdem zu unterschiedlichen Erkenntnissen kommen.
Gott lässt in Seinem Wort gewisse Spannungen und Mehrdeutigkeiten zu. Der Apostel Paulus hat den Nutzen dieser unterschiedlichen Auslegungsmöglichkeiten für die Gläubigen erkannt, wenn er schreibt: «Denn es müssen auch Parteiungen unter euch sein, damit die Bewährten unter euch offenbar werden» (1.Kor 11,19). Diese scheinbaren Mehrdeutigkeiten in der Bibel wirken «schärfend», so wie es in Sprüche 27,17 erwähnt wird, aber sie sind für uns auch eine ständige Mahnung zu einem tiefgehenden Studium der Schrift. Wie die Reizwirkung eines winzigen Sandkorns im Mantelgewebe einer Auster kann auch das Aufeinanderprallen von unterschiedlichen Sichtweisen zur Bildung von veredelten «Perlen der Wahrheit» führen.
Sind wir uns denn absolut sicher, wenn es um «Dogmen» in der biblisch prophetischen Auslegung geht? Diese Frage entbehrt nicht einer gewissen Brisanz, gerade weil es auf dem Gebiet der biblischen Prophetie so viele verschiedene Auffassungen gibt. Wir sollten bei solchen Fragen die Worte der Apostel beachten. Erstens sollten wir die Vertreter anderer Sichtweisen «mit Sanftmut und Ehrerbietung» (1.Petr 3,15) behandeln und sie nicht persönlich angreifen. Zweitens sollten wir andere Meinungen in einem Geist der Demut überprüfen. Dabei sollten wir uns immer wieder bewusst machen, dass unsere Erkenntnis Stückwerk ist und wir alle «durch einen Spiegel ein dunkles Bild» (1.Kor 13,12) sehen. Obwohl wir uns nicht mit «Legenden und endlosen Geschlechtsregistern» abgeben sollen, weil diese «mehr Streitfragen hervorbringen als göttliche Erbauung im Glauben» (1.Tim 1,4), sind wir dazu aufgefordert, auf das prophetische Wort zu achten (2.Petr 1,19).
Was ist denn eigentlich ein Dogma? Ist es eine gute oder eine schlechte Sache? Ein Dogma ist jede religiöse Auffassung, die als festgelegter Glaubensgrundsatz angesehen wird, jedoch richtig oder falsch sein kann. In den meisten Fällen hat dieser Begriff heute jedoch einen negativen Beigeschmack. Er wird oft verwendet, wenn es um festgefahrene, nicht mehr hinterfragte Auffassungen geht. Vor dieser Art von Dogma sollten wir uns in Acht nehmen. Andererseits könnten wir alle empfänglich sein für falsche oder «veraltete» Dogmen, vor allem dann, wenn wir bestimmte Meinungen nicht selbst biblisch begründen können oder wenn wir gar nicht wissen, warum wir diese oder jene Auffassung haben. Natürlich sollten wir der Aufforderung des Apostels Petrus folgen: «Seid aber jederzeit bereit zur Verantwortung jedem gegenüber, der Rechenschaft von euch über die Hoffnung in euch fordert» (1.Petr 3,15). Aber wir müssen auch realistisch sein. Unser Glaubensleben erfordert ein ständiges Bibelstudium … einen Prozess des «Schärfens», auch im Hinblick auf unsere Glaubensauffassungen oder «Dogmen».
Diese falschen Dogmen finden sich auch bei Auslegungen der Endzeitprophetie. Vielleicht ist dieser Bereich sogar am anfälligsten dafür. Warum ist das der Fall? Hier stossen wir auf eine zusätzliche Herausforderung für unser jeweiliges Bibelverständnis. Bei einem Grossteil der biblisch-prophetischen Aussagen geht es nämlich um die Zukunft, also um einen Zeitraum, der für den Betrachter noch im Dunkeln liegt. Deshalb werden wir hier besonders stark von unserer jeweiligen Sichtweise geprägt und von dem, was uns heute bereits vertraut ist. Ohne es zu merken neigt der Bibelleser dazu, die biblischen Weissagungen über die Zukunft im Licht der Vergangenheit und Gegenwart zu deuten. Bestimmte Zukunftsszenarien können wir uns nicht vorstellen, weil sie anders sind als die Bedingungen in der Gegenwart oder Vergangenheit.
Fehldeutungen biblischer Prophetie können verschiedene Formen annehmen. Zum Beispiel könnten wir fälschlicherweise davon ausgehen, dass sich die Bibel einer symbolischen und nicht wörtlich zu verstehenden Sprache bedient. Sehen wir uns ein bekanntes Beispiel in Hesekiel 38 bis 39 an. In diesen beiden Kapiteln wird ein nach weit verbreiteter Meinung noch in der Zukunft liegender Krieg geschildert. In den Kämpfen treten auf Pferden reitende Bewaffnete auf (Hes 38,4). Drei Mal werden in diesem Zusammenhang Pferde erwähnt (V 4.15; Hes 39,20). Diese Tiere werden im Allgemeinen symbolisch gedeutet, weil die heutigen Kriege nicht mehr mit berittenen Truppen, sondern mit Fahrzeugen (Panzern) oder Flugzeugen (Kampfjets und Hubschraubern) geführt werden. Aber ist diese Sichtweise korrekt? Natürlich hat jeder von uns ein Recht auf eine eigene Meinung, aber trotzdem können wir andere Szenarien nicht vollständig ausschliessen. Die Bibel verwendet in dem genannten Beispiel das hebräische Wort für Pferde. Es gibt keinen einzigen Hinweis darauf, dass die Weissagung des Propheten Hesekiel sinnbildlich verstanden werden soll. Das Zeitalter der maschinellen Kriegführung ist erst etwa ein Jahrhundert alt. Wer kann denn wissen, was in den nächsten zehn, zwanzig oder fünfzig Jahren geschehen wird? Schliesslich können uns apokalyptische Ereignisse auch unvermutet treffen.
Weil wir kein umfassendes Verständnis über in der Zukunft liegende Wahrscheinlichkeiten haben, kann sich daraus eine weitere Fehldeutung biblisch-prophetischer Aussagen ergeben. Können wir heute zum Beispiel die Weissagungen des Propheten Daniel besser verstehen als noch vor 2500 Jahren? Natürlich. Durch das im Verlauf vieler Jahre gesammelte Wissen vieler Bibelleser (sowohl von Theologen als auch von Laien) wurde Eisen an Eisen geschärft und unser Verständnis vertieft, aber auch die Zeiten, Epochen und technischen Möglichkeiten haben sich geändert. Daniels Visionen sind deshalb heute besser zu verstehen als in der Vergangenheit. In diesem Sinn haben sich auch früher übernommene Auslegungen biblischer Prophetie als falsch erwiesen, obwohl sie zu «Dogmen» geworden sind. Wenn aber Dogmen aus der Vergangenheit widerlegt werden, sollte man nicht mehr an ihnen festhalten.
Von Wilfred Hahn