11.11.2010

Populäre «Dogmen» in der biblischen Prophetie - Teil 2

Die Auslegung biblischer Prophetie muss immer wieder «geschärft» werden. Oft sind Ausleger von der Sichtweise ihrer Zeit geprägt. So entstehen Dogmen, die irgendwann veralten können. Ein Blick zurück in die Geschichte.
Wenn sich alle Ausleger biblischer Prophetie gegen ein «Schärfen» ihrer Auslegung wehren würden, würden wir heute noch lehren, dass der römische Kaiser Nero aus dem ersten nachchristlichen Jahrhundert der Antichrist ist. In dem frühesten uns bekannten Kommentar über die Offenbarung erwähnt der Bischof Victorinus von Pettau, man hätte Nero als den Antichristen bezeichnet. Auch viele andere falsche Theorien waren weit verbreitet (und sind es heute noch), wie zum Beispiel die Auffassung, dass die Dynastie der Herodianer das siebte Haupt des scharlachroten Tieres in Offenbarung 17 sei.
Wir können feststellen, wie der Lauf der Zeit auch die Bibelauslegung der frühen Kirchenväter beeinflusste. Ein kurzer Überblick über die Deutung der endzeitlichen «zehn Könige» dient uns hier zur Veranschaulichung. Gegen Ende des zweiten nachchristlichen Jahrhunderts deutete Irenäus die zehn Könige auf seine eigene Zeit. Nach seiner Theorie entstünden diese zehn Königreiche durch die Teilung des damals noch bestehenden Römischen Reiches. Er schrieb: «(…) über die zehn Könige, die dann hervorkommen, unter denen das Reich, das jetzt herrscht (die Erde) aufgeteilt wird. (…) Es muss deshalb so kommen, dass das Reich, die Stadt und das Haus in zehn Teile zerfallen; und aus diesem Grund hat Er bereits eine Teilung (die geschehen wird) erahnen lassen. Danielsagt ebenfalls deutlich, dass das Ende des vierten Reiches aus den Zehen des von Nebukadnezar erblickten Bildes besteht. (…) Deshalb sind die zehn Zehen diese zehn Könige, unter denen das Reich aufgeteilt werden wird (…).»
Obwohl es durchaus positiv ist, dass Irenäus eine Verbindung zwischen den zehn Königen und den zehn Zehen aus Daniel 2 gesehen hat, erkennen wir in seinen Theorien eine gewisse Voreingenommenheit. Er ging bei der Herrschaft der zehn Könige jedoch nicht vom Motiv einer Machtkonzentration aus, die für die Weltherrschaft des Tieres (und später des Antichristen) erforderlich ist, wie es auch in Daniel 7,7 geschildert wird («es frass und zermalmte, und den Rest zertrat es mit seinen Füssen»). Stattdessen war Irenäus von der Sichtweise seiner Zeit geprägt. Damals war das Römische Reich noch immer ein Machtfaktor und ein monolithischer Block. Deshalb war für ihn eine Teilung dieses Reiches erforderlich, damit die zehn Könige ihre Herrschaft antreten könnten.
Wie hätte Irenäus in seiner Zeit eine präzise Vorhersage über den Zusammenbruch des Römischen Reiches und dessen Wiederbelebung zu einem späteren Zeitpunkt machen können? Wie hätte er wissen können, dass das Auftreten der zehn Könige erst danach einzuordnen ist? Heute können wir aus dem Verlauf der Geschichte andere Schlussfolgerungen ziehen. Wir wissen, dass das sechste Haupt des Tieres aus Offenbarung 12, 13 und 17 das Römische Reich ist. Wir neigen heute viel eher dazu, die Herrschaft der zehn Könige als Machtbündnis zu sehen – als einen Zusammenschluss –, und nicht als die Teilung eines Reiches, denn schliesslich heisst es in Offenbarung 17,13: «Diese haben einen Sinn und geben ihre Kraft und Macht dem Tier.»
Eine ähnliche Auslegung wie bei Irenäus findet sich auch bei den späteren Kirchenvätern. Kyrill von Jerusalem, der seine Werke etwa in der Mitte des vierten Jahrhunderts verfasste, vertrat ebenfalls die Meinung, dass die zehn Könige noch in seiner Zeit auftreten und aus dem Römischen Reich hervorgehen würden. Ein paar Jahrzehnte später führte Hieronymus (er lebte zwischen 340 und 420 n.Chr.) dieses Dogma weiter. Er sagte: «Wir sollten deshalb mit der überlieferten Deutung aller Ausleger der christlichen Kirche übereinstimmen, dass am Ende der Welt, wenn das Römische Reich zerstört werden soll, zehn Könige auftreten werden, die die römische Welt unter sich aufteilen.»
Bezeichnenderweise war das Römische Reich Ende des vierten und Anfang des fünften Jahrhunderts bereits ein schwacher Abglanz seiner früheren Grösse. Im Jahr 410 n.Chr. wurde Rom von den Westgoten geplündert. Der endgültige Untergang des Reiches wird von den meisten Historikern um das Jahr 470 n.Chr. herum datiert. Obwohl das Römische Reich zerfiel, hielt sich die Vorstellung von einer Aufteilung in zehn Königreiche noch immer, selbst zu einem Zeitpunkt, als es nicht mehr viel aufzuteilen gab. In den ersten fünf Jahrhunderten nach Christus gab es zu keiner Zeit eine gleichzeitig existierende Gruppe von zehn Nationen oder Völkern. Von einer Aufteilung Roms in zehn Folgereiche kann ebenfalls nicht die Rede sein.
Heute können wir bei der Auslegung biblischer Prophetie eine ähnliche Voreingenommenheit beobachten. Veraltete Theorien über die Erfüllung von Prophezeiungen scheinen sich noch immer einer gewissen Beliebtheit zu erfreuen, auch wenn sie durch neuere Entwicklungen widerlegt werden. Selbst wenn zu bestimmten Szenarien keine konkreten Antworten möglich sind, ist die Erkenntnis, dass es Alternativen zu den bekannten Sichtweisen gibt, bei der Auslegung bereits ein Schritt in die richtige Richtung.
Von Wilfred J. Hahn